Alltagshelden – von Vorbildern und Vorfahren

19. November 2020 Allgemein

“Als Frau ist es voll schwer, weibliche Vorbilder zu finden, da gibt es doch so wenige. Ihr Männer habt es da viel einfacher.

Huch, dachte ich etwas überrumpelt – so schwer kann das doch nicht sein! Oder doch? Spontan und gedanklich noch nicht ganz beim Thema angekommen, hatte ich auf einmal mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen im Kopf.

Mit wem identifiziere ich mich? Wem eifere ich nach? Wen bewundere oder verehre ich gar? Worauf kommt es (mir) überhaupt an, um jemanden als Vorbild zu bezeichnen? Und dürfen überhaupt nur Frauen weibliche Vorbilder haben und Männer nur männliche?!

Die Frage trieb mich eine Weile wenig zufriedenstellend herum und so habe ich bei einem Krankenhausbesuch meinen Großvater gefragt, was er denn für Vorbilder habe. Er ist einer der Menschen, die immer eine Antwort parat haben – meist nach einem kurzen Zögern, oft aber direkt mit einem Zitat und zugehöriger Jahresangabe.

Ihm sind die großen Namen der ersten Stunde um die Gründungszeit der BRD eingefallen:

“Konrad Adenauer, Theodor Heuss oder Carlo Schmid das waren noch integere Männer mit Vorausschau, die unseren Staat errichtet haben, und man ihnen später auch nichts [verwerfliches] nachsagen konnte.”

Philipp Schreck – Okt. 2020

Der nächste auf seiner Liste war, nach kurzem Nachdenken und schließlich einem Schmunzeln im Gesicht Billy Jenkins, eine Kunstfigur, ein Cowboy aus einem Wild West Comic seiner Jugend. “So wie er wollten wir dann alle in den Sonnenuntergang reiten. Ha!”.

Auf jeden Fall wurde mir hier klar, dass vielleicht an der eingänglichen Anschuldigung mehr dran ist als ich dachte. Die Öffentlichkeit der Generationen vor mir wurde doch sehr stark von Männern geprägt. In fast allen wahrnehmbaren und öffentlich wirksamen Posten waren ausschließlich Männer vertreten.

Um die Liste meines Opas zu ergänzen sei an dieser Stelle noch der legendäre Fußballspieler Fritz Walter genannt, der mit seinem Charisma und dem ersten Sieg der deutschen Nationalmanschaft 1954 beim “Wunder von Bern” für erste Erfolgsmomente der frischgebackenen Republik nach dem verlorenen Krieg sorgte. Seinen Namen und von seinen Verdiensten habe ich erst jünst erfahren, da wir bei besagtem Großvater ein von ihm handsigniertes Buch in den Archiven fanden.

Von Frauen war da weit und breit kaum etwas zu sehen. Standen sie zu der Zeit meist noch in zweiter Reihe, oder aufgrund vorherrschender Rollenbilder eher kinderhütend hinter dem Herd. Glücklicherweise sind wir mittlerweile im Jahr 2020 und zumindest was diese Belange angeht ein gutes Stück weiter.

Ich glaube, dass jede Generationen ihre eigenen Vorbilder hat. Sie treten dabei, ob bewusst oder unbewusst auch als Gestalter auf. Gestalter, die nicht zwangsläufig aus der Politik oder der Wirtschaft kommen müssen. Gestalter, weil sie für die aufstrebende Generation als Leitbild dienen, und dank ihnen sich die Gesellschaft als Ganzes weiterentwickeln kann.

Als “Vorbild” wird man anerkennend von außen bezeichnet. Von sich selbst zu behaupten ein Vorbild zu sein, klingt (zumindest für meine Ohren) recht schnell hochmütig.

Der englische Begriff des “Rolemodel”, was keine hundertprozentige Entsprechung im Deutschen hat, bringt für mich diese Sichtweise auf den Punkt. Vorbilder stellen eigene Rollen-Modelle dar und gestalten damit die bekannten ein Stück weit um.

Was damals noch, zur Generation unserer Großeltern als “normal” galt, lässt mich jetzt größtenteils nur kopfschütteln. Im zeitlichen Kontext jedoch, anerkennend wo auch diese Generation herkam, ist es für mich nachvollziehbar(er). Sie wollten sich sicher auch selbst behaupten und haben vielleicht auch die Rollenbilder die sie vorgelebt bekommen haben abgelehnt oder hinterfragt. Sich auch den vorgefundenen Umständen widersetzt und neu gestaltet.

Dass “früher alles besser war” bestätigt das für mich. “Früher” gab es schließlich noch keine neue Generation, die Wirbel verursacht hat und auf einmal alles anders wollte.

Danke auf jeden Fall, dass auch meine Vorfahren den Status Quo ihrer Eltern hinterfragt haben und für sich den “richtigen”, vielmehr den “neuen” Weg innerhalb der eigenen Generation gefunden haben.

Damit sehe ich mich auch irgendwann konfrontiert, dass mein eigener Status Quo, so oft ich ihn auch selbst einer Prüfung unterziehe, irgendwann von einer jüngeren Generation vermutlich noch viel drastischer hinterfragt werden wird als ich selbst dazu in der Lage bin.

Wie oft braucht es aber nicht einen Impuls einen unbefangenen und kritischen Blick von Außen, um selbst am meisten Wachsen zu können?

Was als liberales oder revolutionäres Gedankengut angesehen wird, hängt wie oben beschrieben aber davon ab, was jeweils als Wirkungsumgebung und Gestaltungsraum vorgefunden wird. Der unreflektierte, zeigefingerhebende Blick in die Vergangenheit lässt jedoch oft den Umstand außer acht, dass wir das, was es “damals” gab mit unserem heutigen Moralkompass bewerten.

Hat es zum Beispiel den “damals” Regierenden nicht gepasst, ist man eben auf dem Scheiterhaufen gelandet, wenn die Gedanken sprichwörtlich (noch) nicht zum damals gültigen Weltbild passten. Eine “umstrittene” Meinung zu haben muss deswegen per se nicht schlecht sein. Vielleicht ist man damit nur seiner Zeit vorraus (oder manchmal auch mit ihr im Mittelalter stecken geblieben).

Die Vorbilder meiner Generation (- natürlich nicht stellvertretendend für alle, sondern nur für mich – in meiner eigenen Heilewelt-linksgrünen-öko Bubble) sind sicher Greta Thunberg, oder Luisa Neubauer (sogar zwei Frauen! Mit Maja Göpel wären es sogar direkt drei). Einfach dadurch, dass sie, wie oben beschrieben sich den vorgefundenen Umständen der Generation vorher öffentlich widersetzen und Lösungen einfordern, um das nicht selbst angerichtete Unheil der Klimakrise einzudämmen.

Und sie folgen dabei höheren Werten.

Sie tun für sich das Richtige. Geben damit Richtung vor, sind richtungsweisend für andere, um ihr Recht, unser Recht auf ein menschenwürdiges Leben auf diesem Planeten einzufordern und die Interessen, diesmal tatsächlich stellvertretend für alle Menschen auf diesem Planeten in Politik und Wirtschaft durchgesetzt zu bekommen. Was möglicherweise den Schluss nahe liegen lässt, dass sowohl Politik und Wirtschaft nach anderen Werten zu handeln scheinen?

Vorbilder insgesamt, so möchte ich zur Aufzählung meines Großvaters zurückkommen, können also sowohl romantisierte Vorstellung einer fiktiven (der Cowboy Billy Jenkins) oder auch eine öffentliche Person sein.

Als fiktiven Vorbilder sind mir noch zwei Helden meiner Science-Fiction geprägten Jugend eingefallen: Jean-Luc Picard und Obi-Wan Kenobi. Ein Cpt. der USS Enterprise aus Star Trek und ein Jediritter aus Star Wars.

Sowohl Jean-Luc, als auch Obi-Wan haben ihren Wertecodex, ihre Ideale und Überzeugungen, nach denen sie ihr Leben gestalten. Doch sind sie trotz vieler Gemeinsamkeiten für mich nur auf den ersten Blick Brüder im Geiste.

“The acquisition of wealth is no longer the driving force of our lives. We work to better ourselves and the rest of humanity.”

Jean-Luc Picard (Star Trek: First Contact (1996) story by Brannon BragaRonald D. Moore and Rick Berman)

Wirkt für mich Picard mit seinem unerschütterlichen Wertesystem, durch seinen Pragmatismus und seine Fehlbarkeit deutlich nahbarer und menschlicher, als die fast dogmatischen, schillernden und stets doch etwas moralisch überlegenen Jediritter. Er weiß, wann die Oberste Direktive zugunsten eines noch höhren moralischen Codex übertreten werden soll. Einfach, weil es sich richtig anfühlt.

Wohlwissentlich, dass sie (die Gretas meiner Generaton – um wieder zurück zum richtigen Leben zu kommen), indem sie aufgestanden sind und ihre Stimme erhoben haben, von einer Privatperson auf einmal zu einer Person des öffentlichen Lebens geworden sind.

Dieses öffentlich Kante zeigen, zu dem Stehen, was man sagt und gesagt hat, bietet neben viel Zuspruch sofort auch Angriffsfläche.

Und das benötigt Mut.

Mut in der Zivilgesellschaft heute besteht für mich neben, z.B. Zivilcourage auch zu einem Teil darin, für sich, andere und seine Werte öffentlich einzustehen und sie zu verteidigen.

Heutzutage reicht schon ein Tweet aus, eine aus dem Kontext gegriffene Aussage, oder, um Klicks auf seiner Nachrichtenseite zu generieren einfach eine Falschaussage oder Anschuldigung, um Personen des öffentlichen Lebens zu diskreditieren, unglaubwürdig zu machen, oder sogar den möglichen Heldenstatus zu nehmen. Dem willentlich und wissentlich entgegenzutreten empfinde ich als mutig.

Gerade im Sport laden herausragende Persönlichkeiten wegen schier übermenschlichen Leistungen zur Identifizierung und oftmals auch zur Glorifizierung ein, und enttäuschen dann beim Publikwerden einer Affäre oder eines Dopingfalls umso mehr. Ihre Glaubwürdigkeit ist auf einen Schlag dahin und das Drama groß. Das Traumbild der Ikone wird auf einmal fehlbar, menschlich und steht dann oftmals in doppelter Hinsicht nicht mehr auf einem Podest. Es wird dann vor allem sichtbar, dass die “Person des öffentlichen Lebens” auch immer noch eine Privatperson ist.

Eine Privatperson?

Was ist eigentlich mit den Privatpersonen in meinem direkten Umfeld? Die Menschen, die nicht öffentlich auf Bühnen stehen und trotzdem inspirieren? Mir kommt es doch auf die Authentizität, Integrität und Werte an, mit denen ich mich selbst identifizieren möchte. Egal ob öffentlich oder im Privaten.

Erlebte Werte hauptsächlich. Zu denen ich durch den Schleier des Alltags hindurch zu Anderen aufschauen kann. Werte und Taten, die vorbildhaft, vorbildlich und so selbstverständlich in alltäglichen Situationen zu finden sind.

Selbstverständlich, weil es schon die höchsten Werte sind, nach denen diese Alltagshelden handeln.

Die nicht hinterfragt werden müssen.

Die nicht gesellschaftlich zum Diskurs stehen und nicht stehen dürfen.

Weil sie schon die reine Liebe sind. Wir sie nicht anzweifeln, sondern sie nur ab und zu sichtbarer machen dürfen. Sie einfordern und immer wieder in unser eigenes Bewusstsein holen.

Vorbilder gibt es auf vielen Ebenen, und alle braucht es. Die Alltagshelden des direkten Umfeldes, die jeden Tag ihr Möglichstes tun und nach den höchsten Werten leben, und die Vorbilder, die wegen der Abwesenheit der Werte für sie eintreten um sie gesellschaftlich und global auch für andere zu ermöglichen.

Bei meinen unmittelbaren Vorfahren erfahre ich hautnah auf jeden Fall ersteres. Im unverklärten Alltag. Was so ziemlich das Gegenteil mystifizierter Vorbilder sein kann, aber eben nicht sein muss! Und das ganz genau deswegen so zur Betrachtung einlädt.

Und um damit noch einmal auf die Frage am Anfang zurückzukommen:

Ich glaube, wirklich weit blicken muss man nicht, um Vorbilder und Bezugspersonen zu finden. Und ich werde weiterhin Vorbilder auch außerhalb meiner eigenen Geschlechterschublade suchen und finden.

Zeit also, sich dessen bewusst zu machen, was bei den (eigenen) Vorfahren und Alltagshelden so an Vorbildern schlummert, die wir so noch gar nicht entdeckt oder wertgeschätzt haben. (Selbiges gilt natürlich auch für Freunde und Bekannte – ihr seid alle Helden!)

An all die großartigen Menschen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen und keine Titelseite von Printmedien füllen.

An all die tollen Menschen, die täglich Vorbildliches ganz selbstverständlich und selbstlos leisten.

Es ist Zeit, genau diesen Menschen Danke zu sagen. 

Sie selbst für einen Moment in die Öffentlichkeit des eigenen Bewusstseins zu rücken. 

Einmal selbst den Scheinwerfer in die Hand nehmen und auf tolle Taten, Werte und Ideale richten und ihnen zu danken.

Es sind nämlich genau diese Dinge und Menschen, die unsere Welt jeden Tag ein Stück besser machen.

Ihr seid großartig.

Du bist großartig.

Danke.